Eine neue OECD-Studie, eine neue Aufregung - und eine neue Idee? Mai 2006

Migrantenkinder lernen in Deutschland nicht nur schlechter - sie lernen immer schlechter. Das sagt jedenfalls eine Auswertung der letzten PISA-Studie. Nun ist die Aufregung wieder einmal groß. Aber: Genügen die bisherigen Rezepte? Ein despektierlicher Kommentar.

Am 15. Mai 2006 veröffentlichte die OECD eine Sonderauswertung der letzten PISA-Studie, die sich mit Migrantenkindern befasst („Where Immigrant Students Succeed – a comparative Review of Performance and Engagement from PISA 2003"). Zusammenfassend kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass die Förderung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Deutschland nicht - oder jedenfalls deutlich schlechter als anderswo - gelingt: Während Migrantenkinder ihre schulischen Leistungen in anderen Ländern nach und nach verbessern, werden sie in Deutschland immer schlechter.

Wie nach jeder Veröffentlichung schulischer Vergleichsstudien hören wir nun wieder die Forderungen aus allen Parteien, was "sofort" geschehen müsse, um Abhilfe zu schaffen. Einmal abgesehen von der Frage, warum gerade diejenigen, die das längst hätten umsetzen können, sich nun in öffentlichen Forderungen ergehen und auch abgesehen davon, dass unter diesen Forderungen durchaus brauchbare Vorschläge sein mögen - das wiederkehrende Ritual offenbart das tiefer liegende und damit eigentliche Problem:

Gefordert werden Programme, die "von oben" ein- und von den Schulen umgesetzt werden sollen. Übersehen wird dabei, dass gerade dieses obrigkeitsstaatlich organisierte System jenen schwerfälligen Koloss deutscher Bildungsbürokratie geschaffen hat, dessen Untauglichkeitsbeweis jetzt wieder einmal erbracht wurde. Kurz: Es ist genau jene inhaltliche Steuerung durch die Politik und die Bildungsministerien, die der Schule ihre Lebendigkeit und pädagogische Substanz trotz der Bemühungen vieler engagierter Lehrerinnen und Lehrer entzieht.

Mögen die Programme noch so gut gemeint sein - sie vergrößern durch ihre schiere Existenz das Problem, das zu lösen sie sich anschicken: Statt die Eigeninitiatve der in den Schulen handelnden Menschen umfassend zu fördern und einen lebendigen Wettbewerb um gute pädagogische Ideen und Konzepte zu unterstützen, werden Normen, Standards, Inhalte gesetzt. Was gebraucht würde, wären Konzepte zur umfassenden Förderung der pädagogischen Phantasie, Eigeninitiative und Verantwortungsfähigkeit von Lehrerinnen und Lehrern - und von den Eltern!

Seit Jahrzehnten kämpfen in Deutschland die freien Schulen - oftmals am Rande ihres Existenzminimums - darum, als gleichberechtigte Partner in einem zivilgesellschaftlich organisierten, öffentlichen Schulwesen anerkannt zu werden. Fast alle Reformideen, die als Antwort auf PISA formuliert wurden, wurden zuerst in freien Schulen erfunden, erprobt und weiterentwickelt. Auch das finnische oder schwedische Schulwesen, das Vielen als Modell gilt, orientierte sich an den Erfahrungen der freien Schulen. Im Unterschied zu Deutschland führte das allerdings dazu, dass dort - wie bereits vorher in den Niederlanden - Bündnisse mit den nichtstaatlichen Schulen geschlossen wurden, die ihnen die gleichen Zuschüsse und Rechte gewähren wie den staatlichen Schulen.

Dadurch entstand nicht etwa Chaos, sondern eine pädagogische Vielfalt, von der alle profitieren, weil sie nicht die Norm, sondern die Lernenden in den Mittelpunkt stellt. An die Stelle einheitlicher Langeweile trat ein lebendiger Wettbewerb um Ideen.

Wann werden auch die deutschen Parlamentarier endlich begreifen, dass unser Schulwesen nicht mehr, sondern weniger Staat braucht? Dass die finanzielle Gleichberechtigung freier Schulen die pädagogische Initiativkraft unseres Schulwesens vervielfachen und auch in sozialen Brennpunkten wirksam werden lassen würde? Dass freie Schulen Partner auf Augenhöhe sind?

Die Rechtsaufsicht des Staates, der natürlich an den Schulen über die Wahrung der Grundrechte zu wachen hat, bedeutet keineswegs, dass er den Schulen auch ihre Inhalte oder Methoden vorgeben muss. Weitaus effizienter und lebendiger wäre es, wenn sich die Schulen untereinander über gemeinsame Standards und in Absprache mit den weiterführunden Bildungseinrichtungen über Inhalte verständigen würden.

Ein solches Umdenken würde sehr viel wahrscheinlicher zu neuen Formen der Integration - und damit Identifikation - führen, als sie innerhalb des bestehenden, zentral gesteuerten Schulsystems möglich sind. Lehrerinnen und Lehrer brauchen keine Normen, sondern Unterstützung bei der Entdeckung ihrer pädagogischen Freiheit und der daraus erwachsenden Verantwortung.

PS: In Mannheim gibt es eine "multikulturelle Waldorfschule", an der die Integration von Kindern und Jugendlichen unterschiedlichster Migrationshintergründe mit Erfolg praktiziert wird. Die Schulgesetze der Länder machen es wegen der darin vorgeschriebenen Zwangsschulgelder für freie Schulen fast unmöglich, dieses Modell zu übertragen. Ändern kann das nur der politische Wille derjenigen, die über die Gesetze zu entscheiden haben. Und das sind letztlich die Wähler.
(Henning Kullak-Ublick)