Die Wahl und die Bildung - Das Schleswig-Holsteinische DenkMal (Mai 2005)

"Öffentliche Erziehung scheint mir ganz außerhalb der Schranken zu liegen, in welchen der Staat seine Wirksamkeit entfalten muss." Diese Worte schrieb der preußische Minister und Universitätsgründer Wilhelm von Humboldt vor mehr als 200 Jahren an seinen Kabinettschef Uhden. Vor dem Hintergrund der Wahl in Schleswig-Holstein bekommen sie eine denkwürdige Aktualität: Eine einzige Enthaltung war am 17. März im Kieler Landtag Ausschlag gebend für das Scheitern der so genannten „Dänen-Ampel“ und führte schließlich zur Großen Koalition von CDU und SPD.

Nach einem Wahlkampf, in dem die Bildungspolitik einen zentralen und zugleich äußerst kontroversen Stellenwert zugeschrieben bekommen hatte, entscheidet nun eine parlamentarische Mehrheit über die Zukunft der Schule, die sich aus den Hauptkontrahenten zusammensetzt. Der zwischen CDU und SPD ausgehandelte Koalitionsvertrag zeigt denn auch weniger die Spuren des Ringens um einen wirklich tragenden Konsens als eine Aneinanderreihung von Einzelmaßnahmen aus den Programmen beider Parteien.

Alle Vereinbarungen, die von den Koalitionspartnern umgesetzt werden sollen, bleiben, was die Schulpolitik der letzten Jahrzehnte auch schon war: ein weiteres zentral gesteuertes Experiment, das sein Versprechen, alles besser machen zu können, erst noch in der Praxis einlösen muss:

Jede Schulpolitik, die noch immer wie zu Kaisers Zeiten "von oben" kontrollieren will, was in den Schulen passiert, regiert zwangsläufig über die Betroffenen hinweg und schwächt damit den Kern allen wirklichen Lernens: Die Initiative und die Freude an der Übernahme von Verantwortung. Muss das so sein? Ist es ein hinzunehmender Kollateralschaden der repräsentativen Demokratie, dass die Bildung als wichtigste aller öffentlichen Aufgaben von solchen Zufällen wie dem Ausgang dieser Wahl geprägt wird? Gehört die Zukunft unserer Kinder überhaupt zum Territorium parteipolitischer Interessen?

Gerade jene drei Länder, die bei der PISA-Studie ganz vorne lagen - Finnland, Schweden und die Niederlande -, zeigen, dass es auch ganz anders geht. Schon vor Jahren machte man dort Schluss mit dem pädagogisch völlig unsinnigen staatlichen Schulmonopol, das in Deutschland noch immer weit gehend das Denken über Schule prägt. Schulen in staatlicher und freier Trägerschaft führen in diesen Ländern eine selbstverständliche und friedliche Koexistenz. Sie arbeiten unter absolut gleichberechtigten Bedingungen und folgen damit der einfachen Erkenntnis, dass ein Raum nicht dunkler wird, wenn man mehrere Lichter in ihm anzündet.

Schulvielfalt und der Wettbewerb um pädagogische Konzepte wird in diesen Ländern nicht als Bedrohung, sondern als Chance wahrgenommen. Es gehört ganz einfach zum Selbstverständnis dieser an der individuellen Förderung orientierten Schulsysteme, die eigenen Ideen mit den Erfahrungen der Konkurrenz zu bereichern. In Finnland machen die freien Schulen bereits ein Viertel der Schullandschaft aus, in den Niederlanden haben sogar 75% der Schulen nichtstaatliche Träger. Das Ergebnis gibt ihnen, wie nicht nur PISA gezeigt hat, Recht.

In Deutschland wird die Frage nach dem "richtigen" Schulsystem dagegen mit einer ideologischen Härte geführt, die sich nur damit erklären lässt, dass hier um eines der letzten Bärenfelle gekämpft wird, welches den Landespolitikern noch zum Verteilen übrig geblieben ist. Seit 1794 das "Allgemeine Preußische Landrecht" mit dem Satz: "Die Schule ist eine staatliche Veranstaltung" klar stellte, dass der Staat den Kirchen einen wesentlichen Teil der Verantwortung für das private Leben seiner Untertanen abzunehmen gedachte, war das deutsche Schulwesen in nicht weniger als fünf Staatsformen Spielball der jeweiligen politischen Interessen: Auf die Kaiserzeit folgte die Weimarer Republik, danach die Nazidikatatur, der wiederum die Bundesrepublik und die DDR, bis die deutsche Einheit jedenfalls für die BürgerInnen der DDR einen weiteren Regimewechsel mit sich brachte. In jüngster Zeit machte die neu aufgeflammte Föderalismus-Debatte deutlich, dass die an sich sehr fruchtbare Idee der Subsidiarität im Schulwesen ad absurdum geführt wird, wenn sie zu sechzehn Landes-Zentralen führt, die von den Interessen der jeweils regierenden Parteien abhängig sind. Hier zeigte sich - von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen - besonders deutlich die Phantasielosigkeit einer auf den schulpolitischen Obrigkeitsstaat ausgerichteten Politik, die das Subsidiaritätsprinzip nicht bis hin zur einzelnen Schule weiter dachte, sondern stattdessen auf noch mehr Vereinheitlichung und Zentralismus verfiel.

Noch einmal Wilhelm von Humboldt: "Man muss so viel Freiheit lassen als möglich. In Schulsachen muss das Regieren so viel als möglich ganz eingehen (im Sinne von aufhören, Anm. d. Verf.)". Was könnte das für Schleswig-Holstein bedeuten? Eine wirklich zivilgesellschaftlich-demokratische und salomonische Lösung der Debatte um die Zukunft des Schulwesens im Lande könnte darin bestehen, nach niederländischem und skandinavischem Vorbild dafür zu sorgen, dass Schule auch in Deutschland endlich eine Angelegenheit der mündigen Bürgerinnen und Bürger wird. Konkret hieße das:

  • Weit gehende wirtschaftliche und rechtliche Selbstständigkeit der einzelnen Schulen,
    Verantwortung der einzelnen Schulen für die Weiterentwicklung ihrer pädagogischen Konzepte,
  • Grundfinanzierung der Schulen über Schülerkopfpauschalen, also nach tatsächlicher Schülerzahl (wobei sozial benachteiligte Standorte mit zusätzlichen Mitteln gefördert werden könnten);
  • leichberechtigung der Schulen in freier gemeinnütziger Trägerschaft und Abschaffung der Wartefristen bei Neugründungen,
  • ualitätsentwicklung und Evaluierung der Schulen durch unabhängige, aber sorgfältig akkreditierte Institutionen eigener Wahl.

Die Kombination der hier skizzierten Maßnahmen würde die Initiative dorthin verlegen, wo sie alleine fruchtbar sein kann, nämlich in die einzelne Schule vor Ort. Wem schadet es, wenn sich das dreigliedrige und ein Gemeinschaftsschulwesen parallel entwickeln und die Eltern bzw. die älteren Schülerinnen und Schüler selbst entscheiden, welchem System sie sich anvertrauen wollen? Der Gewinn durch die subsidiäre Verlagerung der Verantwortung zu den pädagogisch Handelnden wäre mit Sicherheit dem Vertrauensverlust und der Frustration vorzuziehen, die uns aus den Parteizentralen erwarten, wenn Programme durchgesetzt werden.

Johann Wolfgang von Goethe: "Welche Regierung die Beste sey? Diejenige, die uns lehrt, uns selbst zu regieren!"