Der Entwicklungsfähigkeit des Menschen vertrauen

  • Das Schulwesen in der Zivilgesellschaft setzt auf Freiheit und mündige Bürger
  • Das Erbe des Obrigkeitsstaates in Deutschland behindert bis heute echte Reformen

Von Henning Kullak-Ublick

Schule war immer Ausdruck des vorherrschenden Menschenbildes einer Zeit. Gesellschaftliche Umbrüche spiegeln sich daher auch in der Entwicklung des Schulwesens wider. Während insbesondere die nördlichen Nachbarn Deutschlands im 20. Jahrhundert ein sehr bürgernahes Schulwesen entwickelt haben, unterstanden die deutschen Schulen im gleichen Zeitraum fünf (!) verschiedenen Staatsformen. Trotz ihrer sonstigen Gegensätzlichkeit waren sich die staatlichen Strukturen in einem Punkt erstaunlich nah: in der Durchsetzung ihres Schulmonopols.

Nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus wurde zunächst auch durch Einfluss der Alliierten auf ein föderalistisches Staatssystem gesetzt: Eine zentral gesteuerte Indoktrination der Jugend wie in der NS-Zeit sollte durch die Kulturhoheit der Länder verhindert werden. In der Realität ergab sich dadurch jedoch eine Vervielfältigung der staatlichen Einflussinstanzen: Sie wurden mit der Anzahl der Bundesländer multipliziert, was dem deutschen Schulwesen einen bürokratischen Überbau bescherte, der weltweit seinesgleichen sucht.

Während sich im Gegensatz dazu in Skandinavien und den Niederlanden eine Schulkultur entwickelte, die den vor Ort Handelnden (Schülern, Lehrern und Eltern) sehr weit reichende Gestaltungsspielräume gibt, hielt Deutschland unbeirrt am staatlichen Quasi-Schulmonopol fest. Zwar garantiert das Grundgesetz die Gründung und den Betrieb freier Schulen, aber die Politik sieht oftmals anders aus.

1996 entfachte der PISA-Schock eine öffentliche Debatte über die Zukunft der Schule in Deutschland. Die wenigen zaghaften Versuche, Schule neu zu denken, wurden aber bald eingefangen und in den zähen alten Schlauch neuer bürokratischer Regulierungen gepresst, deren Untauglichkeit der Öffentlichkeit ja gerade durch PISA eindrucksvoll vor Augen geführt worden war. Mangels wirklicher Neuerung ziehen nun viele Eltern die Konsequenz für ihre Kinder und suchen eine Alternative zu diesem System.

Deutschland erlebt einen Gründungsboom für freie Schulen. Die Gesellschaft befindet sich dadurch offenbar mitten in einem Paradigmenwechsel des Verständnisses von Schule – Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen und einen Ausblick zu wagen.

Schulwesen im Lauf der Geschichte

Im Mittelalter wurden Klosternovizen in den “Sieben Freien Künsten“ Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Mathematik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie unterrichtet. Durch eine ganz andere – nichtschriftliche – Schule gingen die den Rittern anvertrauten Knappen, indem sie die „Sieben Tüchtigkeiten“ Schwimmen, Reiten, Pfeilschießen, Fechten, Jagen, Schachspielen und das Verseschmiede übten. Während es das vornehmste Ziel der Klosterschulen war, den Menschen so zu veredeln, dass er sich seines göttlichen Wesens bewusst wurde, ging es bei den Rittern um die Erziehung und Läuterung ihrer Willenskräfte. Beide Schultypen haben das Schulwesen im Abendland nachhaltig geprägt.

Mit der Entwicklung der Städte ab 1200 wurden Schulen unter Magistratshoheit eingerichtet. Der von der Stadt bestellte Magister erteilte seinen Unterricht in Anlehnung an den kirchlichen Lehrplan. Nach der Reformation sollte die einfache Bevölkerung unter der Aufsicht des Pfarrers in Küsterschulen das Lesen der deutschsprachigen Bibel lernen. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts bereiteten die städtischen Lateinschulen privilegierte Schüler auf das Bekleiden kirchlicher und öffentlicher Ämter vor. Die Lehrer waren meistens Pfarrer, die auf eine Pfarrstelle warteten.

Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurden – bedingt durch die erhöhten Anforderungen an die Arbeitskräfte in der entstehenden Industrie - flächendeckend Volksschulen eingerichtet. In den Städten entstanden neben den Gymnasien die Mittelschulen, die gezielt auf die Bedürfnisse der Handwerker und anderer bürgerlicher Berufe Rücksicht nahmen. Für die Mittellosen gab es die schulgeldfreien Armenschulen.

Jahrhunderte lang stand das Schulwesen unter der Obhut der Kirche. Ein radikaler Einschnitt erfolgte, als 1794 unter Friedrich Wilhelm II das noch unter Friedrich dem Großen ausgearbeitete Allgemeine Preußische Landrecht verkündet wurde. In diesem bedeutenden Gesetzeswerk findet sich der folgenschwere Satz: „Die Schule ist eine Veranstaltung des Staates“.

Der Staat nahm nun für sich in Anspruch, Hüter allen öffentlichen Lebens zu sein und beanspruchte, das gesellschaftliche Leben universal zu regeln. Stehende Söldnerheere zwangen ihn, eine Infrastruktur aus Manufakturen, Kriegs- und naturwissenschaftlichen Akademien aufzubauen. Ihre Erhaltung setzte ein funktionierendes, säkularisiertes Schulwesen voraus. Auch das immer selbstbewusster werdende Bürgertum beanspruchte Teilhabe an der staatlichen Macht. Da es bestrebt war, seinen Nachwuchs auf entsprechenden Schulen unterrichten zu lassen, verknüpften sich die staatlichen Ansprüche und die bürgerlichen Erwartungen an das Schulwesen miteinander. Das Proletariat spielte zunächst noch keine Rolle.

„Frei von jedem Nützlichkeitsprinzip“

Schon unmittelbar nach Inkrafttreten des Allgemeinen Preußischen Landrechts vertrat Wilhelm von Humboldt eine radikal andere Idee von Schule: „Öffentliche Erziehung scheint mir ganz außerhalb der Schranken zu liegen, in welchen der Staat seine Wirksamkeit entfalten muss.“

Während der Paulskirchenversammlung 1848 sagte der Neisser Abgeordnete Pauer: „Die Schule, wenn sie recht ihren Zweck erfüllen soll, muss den Menschen frei aus der Urquelle heraus entwickeln … Soll die Schule dieses Ziel erreichen, so muss sie in einer freien Lebensatmosphäre atmen dürfen, die frei ist von jedem Nützlichkeitsprinzip, die frei ist von einem kirchlichen Prinzip und frei ist von einem vorausgestellten staatlichen. … Wenn Sie die Freiheit des Volkes wollen, so schaffen Sie in diesem Sinne freie Schulen.“

In diesem Sinne sagte auch Rudolf Steiner nach der Entstehung der Waldorfschule während eines Vortrags: „....damit, dass wir die Waldorfschule begründet haben, ist noch nichts getan auf diesem Gebiete. Es ist höchstens ein allererster Anfang gemacht. Sogar nur der Anfang eines Anfangs. ... Wenn Sie nicht den Mut dazu bekommen, die Loslösung der Schule vom Staat zu erstreben, dann ist die ganze Waldorfschul-Bewegung für die Katz. Denn sie hat nur einen Sinn, wenn sie hineinwächst in ein Freies Geistesleben."

Trotz dieser immer vorhandenen Unterströmung, die in den reformpädagogischen Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine kurze Blütezeit erreichte, konnte sich das deutsche Schulwesen nie von seinem Erbe aus dem Zeitalter des Absolutismus emanzipieren. Auch heute ist es vollkommen selbstverständlich, dass von politischer Ebene immer wieder in das Schulwesen hineinregiert wird. Niemand findet etwas dabei, wenn z.B. die Parteien regelmäßig und mit rituellem Pathos Vorschläge in die Debatte werfen, was "sofort" geschehen müsse, um das Schulwesen zu erneuern.

Einmal abgesehen davon, dass sich darunter hin und wieder durchaus brauchbare Vorschläge finden - das wiederkehrende Ritual offenbart das tiefer liegende und damit eigentliche Problem: Gefordert wurden und werden Programme, die "von oben" ein- und von den Schulen umgesetzt werden sollen. Übersehen wird dabei, dass genau diese inhaltliche Steuerung durch Politik und Bürokratie den Schulen ihre Lebendigkeit raubt. Trotz der Bemühungen vieler engagierter Lehrerinnen und Lehrer wird dem Schulsystem so immer wieder pädagogische Substanz entzogen.

Mögen die Programme noch so gut gemeint sein – allein durch ihre schiere Existenz vergrößern sie das Problem, das zu lösen sie vorgeben. Es werden immer neue Normen, Standards und Inhalte von oben gesetzt, statt die Eigeninitiative der in den Schulen handelnden Menschen umfassend zu fördern. Ein lebendiger Wettbewerb um gute pädagogische Ideen und Konzepte kommt so nicht zustande.

Gebraucht werden demgegenüber aber Konzepte zur umfassenden Förderung der pädagogischen Fantasie, Eigeninitiative und Verantwortungsfähigkeit der Lehrerinnen und Lehrern - und natürlich auch der Eltern. PISA-Gewinner Finnland hat schon vor Jahrzehnten die freien Schulen nach ihrem Erfolgsrezept befragt. Daraus erwuchs eine gleichberechtigte Partnerschaft staatlicher und freier Schulen, von der alle profitieren.

Schon unmittelbar nach Inkrafttreten des Allgemeinen Preußischen Landrechts vertrat Wilhelm von Humboldt eine radikal andere Idee von Schule: „Öffentliche Erziehung scheint mir ganz außerhalb der Schranken zu liegen, in welchen der Staat seine Wirksamkeit

Sicherlich sind die Forderungen nach Transparenz und Evaluation im Bildungswesen berechtigt. Allerdings kann man am Beispiel der Bildungsstandards sehr gut zeigen, wie sie durch eine zivilgesellschaftliche Ordnung viel wirksamer und näher an der pädagogischen Wirklichkeit umgesetzt werden könnten. Die pädagogisch Handelnden rückten dadurch in den Mittelpunkt, ihre Eigenverantwortlichkeit würde gestärkt.

Statt pädagogisch unsinnige Regelstandards vorzugeben, könnten sich beispielsweise Schulen, Hochschulen und andere weiterführende Bildungseinrichtungen auf Mindeststandards einigen, bei deren Nichterreichen den betroffenen Schülerinnen und Schülern zusätzliche Hilfen angeboten würden. Evaluation könnte auf Basis der veröffentlichten Schulprofile durch akkreditierte, aber unabhängige Institutionen erfolgen und so zu einer fortlaufenden Entwicklung der beteiligten Schulen führen.

Ein gesunder – weil allen Einkommensschichten zugänglicher - Wettbewerb der Schulen würde durch die Einführung eines nachfrageorientierten Finanzierungssystems der Schulen (Bildungsgutschein) gefördert und zusätzlich pädagogische Initiative anregen. In den als besonders innovativ geltenden europäischen Ländern ist es längst selbstverständlich, dass die freie Zugänglichkeit der Schulen nicht durch gesetzlich vorgeschriebene Zwangsschulgelder behindert wird.

Wenn – wie zu Anfang dargestellt - Schule immer Ausdruck eines Menschenbildes ist, stellt sich die Frage, welches Menschenbild dem Schulwesen unserer Zeit zugrunde liegt.

In der oft in der politischen Debatte geäußerten Sorge, Freiheit lade zu Willkür, Beliebigkeit oder Missbrauch geradezu ein, kann man nur ein Misstrauen gegenüber dem mündigen Bürger erkennen. Und so lebt das autoritäre Menschenbild weiter, das im vergangenen Jahrhundert so viel Unheil über die Menschen gebracht hat.

Bildung und Pädagogik setzen Vertrauen in die Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen voraus: Vertrauen in das einzelne Kind, Vertrauen in die Lehrerinnen und Lehrer und Vertrauen in die Fähigkeit von Menschen, Verantwortung zu übernehmen. Um dieses Vertrauen zu erhalten, sind bildungspolitische Strukturen notwendig, die die Freiheit der pädagogisch Handelnden ermöglichen.

Übertragen auf die gesamtgesellschaftliche Ebene bedeutet dies auch: freie Zugänglichkeit zu Schulen jeder Trägerschaft. Will man in einer Demokratie Ernst machen mit dem Recht auf Bildung, darf niemand vom Besuch einer bestimmen Schule ausgeschlossen werden.