Bildung oder Standards? (08.11.2002)

Bildungsstandards sind die Parole der Stunde. Da 2002 für die Bildungspolitik in Deutschland zum "Jahr PISA" geworden ist, wird nun das Heil in Standards gesucht. Aber: Lässt sich Bildung überhaupt standardisieren?

2002 war das Jahr PISA für die Bildungspolitik in Deutschland. Ein Schock zog durch das Land, was gut war, weil es das öffentliche Bewusstsein für ein Thema weckte, das lange genug niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken konnte. Vieles, was in der Folge von PISA begonnen wurde, war und ist als ernsthafter Aufbruch gemeint: Die PISA-Foren, der geplante Ausbau der Ganztagsschulen, nationale Bildungsstandards und die externe Evaluation der Schulen sind nur einige Beispiele dafür. Familienpolitisch sieht der rot-grüne Koalitionsvertrag vor, für ein Fünftel aller Kinder unter drei Jahren Betreuungsplätze zu schaffen.

Es ist also etwas in Bewegung. Die Qualität einer Bewegung wird allerdings weniger am Grad ihrer Beschleunigung als an ihrer Richtung erkennbar. Und da macht schon eine erste Prüfung deutlich, dass nicht wenige der jetzt beschlossenen Maßnahmen eher spontanen Reflexen gleichen, die aus eben jenen Denkformen herausgeschossen sind, welche die neuerdings und allseits beklagte Bildungsmisere erst herbeigeführt haben. So nimmt es auch nicht Wunder, dass ausgerechnet der Ruf nach mehr Kontrolle und nach mehr Zentralisierung zu einem parteiübergreifenden Konsens bei den KultusministerInnen aller Bundesländer führte. "Nationale Bildungsstandards" sind die Parole der Stunde: "Mit Hilfe von Wissenschaftlern", so die Kultusministerkonferenz am 2.11.2002, sollen für die verschiedenen Schulstufen und Schulabschlüsse bundesweit geltende Standards entwickelt und vom Herbst 2004 an unter Verwendung zentraler Aufgabenpools evaluiert werden.

Erinnern Sie sich noch? Vor gerade einmal zwei Jahren wurde mit derselben Heilserwartung der "Laptop für alle" propagiert. Als das Wundermittel der Stunde galt die vernetzte Schule. Heute sind es also Standards, die typisch deutsche Abwandlung jener "minimal standards", auf die man sich während der 70er Jahre in Amerika verständigte. Im Unterschied zu den USA verstauben in Deutschland allerdings bereits jetzt ganze Bibliotheken mit den Erlassen und Verordnungen unserer regelungsfreudigen Kultusbürokraten.

Ich frage mich, was das mit der Erneuerung der Lernkultur zu tun haben soll? Die PISA-Studie hat ja nicht etwa belegt, dass Deutschland an einem Zuwenig an Selektion oder an einem vernachlässigten Prüfungswesen leidet. Ganz im Gegenteil: Ausgerechnet das Land, welches eine Selektion betreibt, die in Europa ihresgleichen sucht, welches auch in seiner seit mehr als 200 Jahren ungebrochenen Staatsschultradition von jeher alle Schülerinnen, Schüler, Lehrerinnen und Lehrer als potenzielle Drückeberger vor den hoheitlich verordneten Lehrplänen angesehen und entsprechend behandelt hat, ausgerechnet dieses Land also muss jetzt erkennen, dass es mit seiner Devise "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser" gescheitert ist. Das von ungezählten Schreibtischpädagogen ausgeklügelte, prüfungsfixierte Schulsystem erweist sich als nicht konkurrenzfähig, also kurz: als Flop.

Lernen findet offensichtlich anderswo statt. Doch unverdrossen propagieren unsere BildungspolitikerInnen von Annette Schavan bis Edelgard Bulmahn einen durch Standards geheiligten Zentralismus als Lösung der deutschen Bildungsfrage. Die Freiheiten, welche den einzelnen Schulen künftig angeblich eingeräumt werden sollen, erweisen sich vor diesem Hintergrund als Scheinautonomie, weil es dabei keineswegs um pädagogisches Leben, sondern einzig um die Effizienz geht, mit der die zentralen Vorgaben erreicht werden können.

Übrigens: Nichts gegen Standards! Ich weiß es durchaus zu schätzen, dass die Zapfhähne aller Tankstellen in den Tank meines Autos passen und dass mein Kreuzschlüssel die Spax-Schrauben aller Hersteller zu drehen vermag. Hier geht es aber nicht um eine Industrienorm, sondern um die Kultur des Lernens, um Bildung und um Pädagogik. Und die setzen mehr als alles andere Vertrauen voraus: Vertrauen in das einzelne Kind, Vertrauen in die Lehrerinnen und Lehrer und Vertrauen in die Fähigkeit von Menschen, sich für die Welt zu interessieren. In bildungspolitische Strukturen übersetzt heißt Vertrauen Freiheit, und zwar sowohl der Eltern (bzw. der älteren Schülerinnen und Schüler) über die freie Wahl ihrer Schule als auch der Schulen selbst in der Entwicklung und Umsetzung ihrer pädagogischen Konzepte.

Gerade der Blick auf die skandinavischen Länder, die heute so gerne zitiert werden, zeigt, dass dort eine ungleich höhere Freiheit herrscht als in Deutschland. Es ist also nicht ein Mehr an Selektion, sondern ein Mehr an Eigenverantwortung, was zu den guten Ergebnissen bei PISA geführt hat. Auch in Deutschland gibt es durchaus Stimmen, die für eine Schulautonomie eintreten, welche diesen Namen auch verdient hat. Die Idee der kommunalen Schule zählt ebenso dazu wie die Forderung nach finanzieller Gleichberechtigung der freien Schulen - in den Niederlanden längst praktizierte Wirklichkeit, in Deutschland immerhin im Wahlprogramm einer der (im September noch hoffnungsfrohen) Bundes-Parteien nachzulesen. Auch die Vorschläge der gewerkschaftsnahen Böckler-Stiftung zur Reform der Bildungsfinanzierung wiesen schon vor Jahren Wege, die zu einer substanziellen Erneuerung der Bildungskultur führen könnten.

Auf der Basis pädagogischer Freiheit ließe sich sogar produktiv über Minimal-Standards nachdenken - dann aber als Konsens der beteiligten Schulen und der Menschen, die als Pädagogen tatsächlich die Verantwortung schultern. Der Hauptadressat von PISA hat noch gar nicht gemerkt, dass er gemeint ist: Es ist das ganze System einer hoheitlich verwalteten Schule und einer Bildungspolitik, die zwar viel von Eigenständigkeit redet, die aber systematisch alle freien Schulinitiativen mit Wartefristen, laufend gekürzten Zuschüssen und erschwerten Abschlussprüfungen daran hindert, dem Schulwesen eben jenes Leben einzuhauchen, das wieder eine Kultur des Lernens schafft.